Thomas Hummel in der Süddeutschen Zeitung, 03.01.2022
Deutschland muss nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts schnell mehr fürs Klima tun. Wie Umweltjurist Remo Klinger die Einhaltung von Gesetzen einklagt.
München – Vor 15 Jahren, erinnert sich Remo Klinger, da haben Anwälte von Unternehmen auf der anderen Seite des Gerichtssaals noch gespottet. Sprüche seien gefallen wie: „Sie hat wohl der Trittin geschickt“, in Anspielung auf den früheren Umweltminister der Grünen. „Oder es wurde eisig geschwiegen, inklusive fehlender Verabschiedung“, erzählt Klinger.
Heute sitzt der 52-jährige Rechtsanwalt mit dem Spezialgebiet Umweltrecht in seiner Kanzlei in Berlin-Wilmersdorf. Hohe Decken, in einem Besprechungsraum hängen drei Gemälde, eine Regalwand steht voller Gesetzbücher. Wöchentlich erhält er Bewerbungen von Studenten oder Juristen, die bei ihm arbeiten wollen. Betritt Remo Klinger heute einen Gerichtssaal, lacht niemand mehr.
Klinger arbeitet als Anwalt oft für die Deutsche Umwelthilfe (DUH). Der Verein polarisiert. Bei den einen färbt sich das Gesicht rot vor Zorn, bei anderen ist er Held im Kampf für eine saubere Umwelt und gegen die Klimakrise. Öffentlich bekannt ist der Bundesgeschäftsführer Jürgen Resch, der all die Emotionen abkriegt. Das juristische Mastermind dahinter heißt Remo Klinger.
Er hatte maßgeblichen Anteil daran, dass im vergangenen April das Bundesverfassungsgericht den wegweisenden Beschluss zur Einhaltung der Klimaziele entschied. Auch andere bekannte Umweltjuristen wie Roda Verheyen aus Hamburg oder der Leipziger Felix Ekardt waren beteiligt. Klingers Idee, das noch zu Verfügung stehende Treibhausgas-Budget bis zu einer Erderwärmung von 1,5 Grad Celsius als Basis zu nehmen, überzeugte die Richter. Deutschland muss nun kurzfristig mehr tun, um Emissionen einzusparen und künftige Generationen nicht zu sehr zu belasten. Für Klinger war der Beschluss des höchsten deutschen Gerichts ein großer Erfolg. Doch wer dachte, nun sei für ihn alles erreicht, der irrt. Der Eindruck ist eher, dass es jetzt erst richtig losgeht.
Die Umwelthilfe unterstützt Verfassungsbeschwerden von Jugendlichen gegen zehn Bundesländer, damit diese Klimaschutzgesetze aufstellen oder schärfen. Es begann mit Bayern, Nordrhein-Westfalen und Brandenburg und endete Anfang Dezember mit Baden-Württemberg und Niedersachsen. Für Klinger ist das nur logisch. Denn auf Bundesebene sind die Instrumente für erfolgreichen Klimaschutz nun vorhanden, „was im föderalen Staat aber noch komplett fehlt, sind ausreichende Gesetze der Länder“. Hier würden maßgebliche Entscheidungen getroffen, etwa Abstandsregeln für Windräder oder eine Pflicht von Solardächern. Da seine Beschwerden auf dem Beschluss des Verfassungsgerichts aufsetzen, rechnet Klinger damit, dass diese Verfahren im Jahr 2022 über die Bühne gehen. Natürlich mit einem Erfolg.
Wichtiger noch dürften zwei Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg werden. Die DUH hat die Bundesregierung verklagt, Programme mit konkreten Maßnahmen in den jeweiligen Sektoren von Gebäuden bis Industrie zu erstellen, die prognostisch nötig sind, um die Ziele des Klimaschutzgesetzes einzuhalten. Darum hat sich die große Koalition gedrückt, wie zwei von ihr selbst in Auftrag gegebene Gutachten herausfanden. Auch die Pläne im Koalitionsvertrag der neuen Regierung reichen nach einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung DIW nicht aus, selbst wenn es deutliche Fortschritte gibt. So ist sich Umwelthilfe-Chef Resch sicher, dass die Ampel-Koalition nach einem Urteil zum Beispiel ein Tempolimit auf Autobahnen einführen muss, weil der Bereich Verkehr seine Ziele weit verfehlt.
Angesichts der neuen politischen Dynamik stellt sich dennoch mancher im Umfeld der Klimaschutz-Bewegung die Frage, ob es all die Klagen eigentlich noch braucht. Schließlich geht die Ampel-Koalition angetrieben von den Grünen so engagiert ans Werk wie nie eine Regierung zuvor. Baden-Württembergs grüne Umweltministerin Thekla Walker reagierte entsprechend verärgert auf das Vorgehen der DUH. Es stehe ihr frei zu klagen, doch „die Frage ist, wie sinnvoll dies ist“, sagte sie. Schließlich habe das Bundesland das „modernste und ambitionierteste Klimaschutzgesetz in Deutschland“ mit dem Ziel, bereits 2040 klimaneutral zu sein, deutlich früher als andere. Doch Klinger will sich nicht beirren lassen.
Nach dem Beschluss des Verfassungsgerichtsmeldeten sich Juristen aus aller Welt bei ihm, um zu erfahren, wie er und seine deutschen Kolleginnen das gemacht haben. Anrufe aus Kanada, Brasilien, Indien oder Japan gingen in Berlin ein. Weltweit nehmen Klimaklagen zu, wie das Sabin Center an der Columbia University in New York registriert. Demnach laufen außerhalb der USA 472 Verfahren gegen Regierungen, darunter in Großbritannien, Südkorea, Australien oder Mexiko. Auch in den USA wurden Dutzende Klagen eingereicht. Zum Beispiel von der Stadt Hoboken im Bundesstaat New Jersey gegen Exxon-Mobil und andere Öl- und Gasunternehmen. Hoboken verlangt Schadenersatz von den Unternehmen in Höhe von 500 Millionen Dollar, weil die Vermarktung fossiler Brennstoffe und die dadurch ausgelöste Erderwärmung zu enormen Kosten etwa in Anpassung und Katastrophenschutz führe.
In Deutschland geht derzeit Greenpeace gegen VW vor, die Umwelthilfe gegen BMW, Mercedes und den Öl- und Erdgasproduzenten Wintershall. Die Autokonzerne sollen sich verbindlich verpflichten, von 2030 an keine Fahrzeuge mit Verbrennermotoren mehr zu verkaufen, Wintershall soll 2026 aufhören, neue Öl- oder Gasfelder zu erschließen. Klinger glaubt, auch Unternehmen seien verpflichtet, mittelbar die Grundrechte zu achten. Und das könne aus seiner Sicht nur heißen, dass auch sie den Ausstoß von Treibhausgasen schnell verringern müssen. Mit ersten Verhandlungen rechnet er in diesem Herbst, weitere Instanzen würden folgen.
Bei den Unternehmen und in Wirtschaftsverbänden führen die Klagen zu Verunsicherung und Abwehrreaktionen. Dass in den Niederlanden der Öl-Riese Shell in der ersten Instanz dazu verpflichtet wurde, seine Emissionen bis 2030 um 45 Prozent zu senken, erhöht die Nervosität. Wolfgang Steiger, Generalsekretär des Wirtschaftsrates der CDU, erklärt: „Solange Unternehmen alle gesetzlichen Auflagen und Grenzwerte einhalten, sind solche Klagen der DUH und Greenpeace politischer Klamauk und reine PR-Aktionen.“
Doch sicher sollte sich niemand sein. Bis vor ein paar Jahren war es Verbänden gar nicht möglich, die Einhaltung von Umweltgesetzen so weitgehend einzuklagen. Dann sah Klinger einen kleinen Absatz in einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zum Schutz des slowakischen Braunbären und erkannte die Chance. Der EuGH hatte hier Hinweise zur Ausweitung der Klagebefugnis gegeben und Klinger bewirkte eine Umsetzung in deutsches Recht. 2015 forderte er dann als Anwalt der DUH mehr als 40 Städte auf, die von der Europäischen Union vorgegebenen Luftgrenzwerte einzuhalten.
Kaum jemand in der Politik nahm das anfangs ernst. Am Ende mussten die Städte Maßnahmen ergreifen, einige erließen Dieselfahrverbote. Es prasselten Vorwürfe auf die Umwelthilfe ein. Doch ihr Ziel haben Klinger und der Verein fast erreicht. Sechs Jahre später liegt nur noch München an der Hauptverkehrsader Mittlerer Ring über den erlaubten Werten, in Nürnberg stehen die aktuellen Ergebnisse aus. „Wir wollten es eigentlich in fünf Jahren schaffen, zufrieden sind wir trotzdem“, sagt Klinger.
Der Jurist stellt fest, dass der Respekt der Gegenseite heute wesentlich größer sei als früher. Bisweilen bieten Beklagte Gespräche an, um sich außergerichtlich zu einigen. „Wir verhandeln da meist nicht mehr mit Abteilungsleitern, sondern in größeren Sachen auf Minister- oder Vorstandsebene“, erzählt Klinger. Er macht nicht den Eindruck, deshalb in der Sache nachgeben zu wollen.