Er hat Atomkraftwerke dichtgemacht, er vertritt die Opfer der Eschede-Katastrophe und die verstrahlten Radartechniker der Bundeswehr…
aus: Der Tagesspiegel, Dritte Seite, Nicol Ljubic, 14.7.2001
Manchmal ist es eine Espresso-Maschine, die den Unterschied macht. Eine italienische, von Pavoni, für 2500 Mark, die kaum aufgefallen wäre, wenn Reiner Geulen sie nicht erwähnt hätte. Das erste Mal im Konferenzraum seiner Kanzlei, mit dem Tisch aus Kirschholz in der Mitte – und jetzt noch mal, in der Küche. Ein Mann mit einem „Schuljungengesicht“, wie „Die Woche“ ihn beschrieb, akkurat gekleidet, in Hemd und Anzughose, höflich, der einen gern durch die Räume seiner Kanzlei führt, die teuren Möbel unerwähnt lässt, dafür auf die Espresso-Maschine verweist. Als wäre sie es, die ihn auszeichnet. Er sagt: Wo er auch hinkomme, in Ministerien oder Chefetagen, überall werde furchtbarer Filterkaffee getrunken. Und es klingt, als sei er der einzige Genießer unter lauter Banausen.
Er erzählt von einem Treffen bei Hartmut Mehdorn, dem Chef der Deutschen Bahn. Er war bei ihm mit Opfern und Hinterbliebenen der Eschede-Katastrophe, die er als Anwalt vertritt. Auf dem Tisch habe ein Plastikteller gestanden, mit Brötchen unter einer Folie. Lieblos sei das gewesen, sagt Geulen. Und: dass sie stolz genug gewesen seien, nichts anzurühren. Finden solche Treffen in seiner Kanzlei statt, lässt er vom Italiener Antipasti bringen, vom Feinkosthändler frisches Obst und dazu gibt es diesen Espresso, aus seiner Pavoni, die „Crema“ hellbraun, nicht zu heiß, nicht zu kalt. Das „Standing“, wie er es nennt, ist das Wichtigste für ihn. Ein gut eingerichtetes Büro, guter Espresso, Stil und hoher Anspruch an sich selbst: dass der Gegner erst einmal ordentlich Respekt hat.
Vorbild Schily
Das war es auch, was ihm damals an Otto Schily so imponiert hatte, dessen Sozius er 1975 wurde: das Distanzierte. „Schily“, sagt er, „hat nie jemanden geduzt, er trug keine Rollkragenpullover und nie Turnschuhe.“ Reiner Geulen bedient das Bild, das man hat von einem erfolgreichen Anwalt: Er fährt Jaguar, hat sein Büro in Berlin-Wilmersdorf, Altbau mit italienischem Bad, den Stuck lässt er neu herrichten, von italienischen Stuckateuren, die in Venedig gelernt haben. Er ist ein „Öko-Anwalt“, der nichts gemein haben will mit dem Klischee: von einem, der verbittert hinter einem Sperrholz-Schreibtisch sitzt.
Geulen, 58 Jahre alt, hat viele große Prozesse gegen Atomkraftwerke geführt, unter anderem das Atomkraftwerk Mülheim-Kärlich stillgelegt, auch den schnellen Brüter in Kalkar, er hat die lecke Sondermülldeponie Münchehagen bei Hannover dichtgemacht, für den damaligen hessischen Umweltminister Joschka Fischer die Brennelemente-Fabrik „Nukem-Alkem“ in Hanau geschlossen, und seit über 20 Jahren kämpft er für die Schließung des Endlagers in Gorleben. „Das mit dem Idealismus“, sagt er, „darf man nicht übertreiben.“ Und: „Ich bin kein Gutmensch.“ Als müsste er das beweisen, sagt er, dass er selten Bürgerinitiativen vertrete. Weil die ihn sich schlicht nicht leisten könnten. Die Bezeichnung „Star-Anwalt“ mag er nicht, weil sie von der Klatschpresse geprägt ist. Star-Anwälte sind für ihn der Münchner Michael Witti oder der Amerikaner Ed Fagan, der als Hauptanwalt die Entschädigung der Zwangsarbeiter voranbrachte.
Was Geulen mit Fagan verbindet, ist allein die Tatsache, dass sich beide auf Großklagen spezialisiert haben und versucht sind, diese vor amerikanischen Gerichten auszutragen. Damit droht Geulen für den Fall, dass die Klage gegen die Deutsche Bahn, die er im Mai diesen Jahres vor dem Landgericht Berlin eingereicht hat, ohne Erfolg bleibt. Er fordert Schmerzensgeld für die Hinterbliebenen der Eschede-Katastrophe, bei der im Juni 1998 101 Menschen ums Leben kamen. Nach deutschem Recht haben zwar Verletzte Anrecht auf Schmerzensgeld, nicht aber Hinterbliebene von Toten. Der Berliner Anwalt Burkhard Kötke formuliert es so: „In Deutschland ist der Tod als Ende des Schmerzes definiert, in den USA stellt er den Höhepunkt des Schmerzes dar.“ Entsprechend hoch sind auch die Summen, die an Hinterbliebene gezahlt werden. Im Fall der Eschede-Opfer würde Geulen versuchen, die Thyssen-Krupp-Holding anzuklagen, deren Gesellschaften auch in den USA operieren und an der Entwicklung, Produktion und Kontrolle der für den Unfall verantwortlichen Radreifen maßgeblich beteiligt gewesen seien.
Von einer „Amerikanisierung“ der Justiz spricht Professor Armin Willingmann, Experte für Schadensrecht, deren Ursache darin liege, dass es in Sachen Schmerzensgeld ein Defizit gebe im deutschen Rechtssystem. Und dass diese Amerikanisierung erst in den vergangenen Jahren eingetreten sei, habe seinen Grund vor allem darin, dass Deutschland bis dahin vor schweren Katastrophen weitgehend verschont geblieben sei. Reiner Geulen spricht von einer rechtlichen Grauzone. „Es ist notwendig“, sagt er, „dass sich da schnell was ändert.“
Seit Ende vergangenen Jahres vertritt er ehemalige Radartechniker der Bundeswehr, mittlerweile über 200, die in den 60er und 70er Jahren verstrahlt wurden und heute an Krebs leiden. Die Leute, sagt er, stünden mit dem Rücken zur Wand. Auch in diesem Fall erwägt er, falls es zu keiner Einigung komme, eine Klage in den USA einzureichen, gegen die amerikanischen Rüstungsfirmen, die am Bau der Radaranlagen beteiligt waren. „Ist doch klar“, sagt er, „dass ein Anwalt diese strategische Option ergreifen muss, wenn es nicht anders läuft.“ Ein angenehmer Nebeneffekt: In den USA werden Erfolgshonorare gezahlt, eine Regelung, die in Deutschland verboten ist. Zwar gelten die nur für amerikanische Anwälte, aber davon könnten auch deutsche profitieren, weil kaum einer von ihnen auf einen amerikanischen Partner verzichten würde, dafür ist das US-Rechtssystem viel zu kompliziert.
Die Pressekonferenz, die Reiner Geulen für die Strahlenopfer organisiert hat, wirkt wie eine Mischung aus Podiumsdiskussion und Straßenfest. Die Ackerstraße in Berlin-Mitte wurde gesperrt, eine Bühne aufgebaut, mit einem langen Tisch und zehn Stühlen, rot-grün-gelbe Scheinwerfer, davor Bänke und Tische, wie im Biergarten. Gekommen sind Opfer, deren Angehörige und Journalisten. Und natürlich Reiner Geulen, der die Hauptrolle spielt; blaues Hemd, braune Schuhe, die Krawatte in den Hosenbund geschoben, spricht er sachlich, ohne besonderes Pathos, in die Mikrofone und Kameras. So tritt er auch vor Gericht auf: nie laut, mit höflicher Diktion.
„Die Bundeswehr hat ihre Leute verheizt“, sagt Reiner Geulen, „die Bundeswehr hat die Gesundheit ihrer Beschäftigten völlig ignoriert.“ Grob geschätzt geht es um 50 bis 60 Millionen Mark an Schmerzensgeld und Schadensersatz. Er zweifelt nicht daran, dass Rudolf Scharping als Verteidigungsminister einknicken werde, spätestens wenn es zum Prozess komme und er, Geulen, seine Akten auf den Tisch lege. Denn aus denen werde klar, sagt er, dass der Bundeswehr bereits Ende der 50er Jahre die Gefahr der Verstrahlung bekannt war. Die Erklärungsfrist endet am Donnerstag. „Falls die Bundeswehr sich bis dahin nicht rührt“, sagt Geulen, „wird es ganz schnell ernst.“ Spätestens im September will er dann klagen.
Nach seiner Rede gibt er Interviews, rückt immer mal wieder seine Krawatte zurecht, und macht nicht den Anschein, als sei es ihm lästig, in der Öffentlichkeit zu stehen. Er braucht die Medien, um Druck auf seine Gegner auszuüben, aber auch für sich selbst. Er sagt: Narzissmus sei nichts Schändliches, schließlich habe er doch auch etwas mit Anerkennung zu tun. Und man könnte meinen, dass es das ist, was hinter allem steht: die Suche nach Anerkennung.
Die Sehnsucht nach materiellem Wohlstand kann es nicht gwesen sein, die ihn trieb, denn der Wohlstand war da, von Anfang an. Sein Vater war Tuchfabrikant und Mitglied im Wirtschaftsrat der CDU. Dass Unternehmer im Elternhaus ein- und ausgingen, sagt Geulen, gehörte dazu, genau wie die gute Ausbildung, gute Manieren und das „sehr gute Examen“, das er später machte. Den sozialen Aufstieg habe er nie gebraucht. Er wollte der geistigen Enge Aachens, wo er aufwuchs, entkommen. Ging nach Freiburg, studierte Philosophie und nahm als Chefredakteur einer Studentenzeitung den Kampf auf gegen einen Universitätsrektor und dessen Nazi-Vergangenheit sowie gegen den Generalvikar des Bischofs, weil der als Mitglied der Zentrums-Partei 1933 für das Ermächtigungsgesetz gestimmt hatte. 1966 zog Reiner Geulen nach Berlin, wurde Führungsmitglied im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), und als sich seine Freunde maoistischen Organisationen anschlossen, fing er an, Jura zu studieren. Was darauf zurückzuführen war, dass der Generalvikar ihn wegen Beleidigung angezeigt hatte. Er wollte sich der Strafjustiz gegenüber nicht wehrlos fühlen.
Für Geulen war es nicht die Rebellion gegen das Elternhaus, es war die latente nazistische Stimmung in der Gesellschaft, die ihn aufbrachte. Als sein Vater ihn als SDS-Mitglied auf einem Foto in der „Welt“ sah, sei der so stolz gewesen, seinen Sohn in der Zeitung zu sehen, dass er über die Umstände nicht nachgedacht habe. Bis heute ist Reiner Geulen keiner Partei beigetreten. 1989, im Jahr des Mauerfalls, hätte er Berliner Umweltsenator werden sollen in der rot-grünen Regierung. „Es war das erste Mal“, sagt er, „dass ich ernsthaft darüber nachgedacht habe, in die Politik zu wechseln.“ Wie die anderen, denen er im Laufe der Jahre begegnet war: Otto Schily, Joschka Fischer, Herta Däubler-Gmelin, mit der er studiert hat, und Gerhard Schröder, auch Anwalt, mit dem er früher gemeinsam die Strafverteidigung für Brokdorf-Demonstranten übernommen hatte.
Freund Fischer
Über Schily möchte er nicht reden. Dass sie sich gestritten hätten, nachdem Schily die Kanzlei verlassen habe, heißt es. Geulen sagt: Ihr Verhältnis sei inzwischen wieder gut. Auch zu Fischer, dem so viele vorwerfen, im Zuge der Macht seinen Idealen untreu geworden zu sein, möchte sich Geulen nicht äußern. „Sie müssen verstehen“, sagt er, „wir sind befreundet.“ Ob er, Geulen, sich selbst treu geblieben sei? „Ja“, sagt er, „viele der 68er haben sich angepasst oder sich maoistischen Parteien angeschlossen. Ich habe beides nicht gemacht. Ich bin mir sehr treu geblieben: Vor 40 Jahren war ich Ostermarschierer für Frieden und gegen Atombewaffnung, heute vertrete ich Strahlenopfer.“
Er hat sich gegen eine Karriere als Politiker entschieden. Weil er gern Anwalt ist und weil er die Vorstellung nicht mochte, sich mit Abteilungsleitern und Sachzwängen herumzuärgern – und bestenfalls Kompromisse zu erzielen. „Als Politiker“, sagt er, „sitzt man immer in der Partei rum, muss mit Lobbyisten reden, intrigieren – so viel zerfleischende Arbeit und so wenig Gestaltungsmöglichkeiten.“ Als Anwalt sei er effektiver. Er sagt: „Ich habe mehr für die Strahlenopfer getan als Scharping.“ Und wenn Gorleben eines Tages kippt, wird er dazu beigetragen haben. Er könne gezielt Einfluss nehmen. „So ähnlich wie“, und dann überlegt er kurz und sagt: „wie Greenpeace.“ Nur, dass er im Gerichtssaal kämpft statt im Schlauchboot.
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